Milas Fall - Theres' Büch(n)er
 
 

Milas Fall

Ein dreißig Jahre zurückliegendes Verbrechen, das zwei Familien zerstörte, treibt die angesehene Unternehmerin Hohenberg in den Selbstmord.
Hauptkommissar Berling, der in dem Fall der Suizidentin ermittelt, taucht tief in deren Familiengeschichte ein – zu tief …
Nach einem ungeplanten Besuch eines Kollegen der Hamburger Mordkommission nimmt Berling unbefugt im Alleingang die Ermittlungen des bereits abgeschlossenen Falls wieder auf.
 
Das eigenmächtige Vorgehen des Kommissars wird die Sicht auf die Geschehnisse und das Leben Berlings grundlegend verändern.

 

 




Die Taschenbuchausgabe umfasst 253 Seiten
Das ebook hat eine Dateigröße von 1140 KB
 

Leseprobe:

Prolog

Sie saß auf der Aufkantung des Flachdaches, ließ ihre Beine baumeln und schaute hinunter auf die schlafende Stadt.
Um drei Uhr am Morgen war auf den Straßen kaum Verkehr, und es gab nur ein paar Wohnungen, in denen Licht brannte.
 
Auf dem Dach des zwanzigstöckigen Hochhauses fand ihre geschundene Seele ein wenig Ruhe.
Niemand konnte sie hier oben stören. Es gab nur fünf Schlüssel, um die schwere Brandschutztür aus Stahl zu öffnen. Drei wurden bei der Hausverwaltung verwahrt, einen trug der Hausmeister an einer Kette um den Hals, und den fünften hatte sie mit einem kräftigen Wurf in die Dunkelheit geschleudert, nachdem sie die Stahltür hinter sich abgeschlossen hatte. Sie hoffte, dass er weit vom Hochhaus in einem der Büsche der umlaufenden Grünanlage gelandet war, wo ihn niemand finden würde.
 
Sie hatte nicht viel Überredungskunst aufwenden müssen, bis der Hausmeister eingewilligt hatte, einen Nachschlüssel für die Tür zum Hochhausdach anfertigen zu lassen -, denn sie hatte von ihrem Vater gelernt, dass jeder Mensch seinen Preis hatte.
Beim Hausmeister war es ein dreiwöchiger All-Inclusive-Urlaub in der Dominikanischen Republik für sich, seine Frau und die drei Söhne gewesen.
Für sie waren die Kosten einer solchen Reise nur ein Taschengeld. Für den Mann und seine Familie war es ein lang gehegter Traum, der ohne sie niemals in Erfüllung gegangen wäre.
 
Seit sie im Besitz des Schlüssels war, hatte sie sich nachts so oft wie möglich aus dem Haus geschlichen, um weit über den Dächern der Stadt ein bisschen Ruhe und Frieden zu finden.
Bei dem Gedanken, dass sie nie an diesen wunderbaren Ort zurückkehren würde, wurde sie fast ein wenig wehmütig. Aber ihr Entschluss stand fest.
 
Sie ging zurück zur Stahltür, drehte sich herum und fing an zu laufen. Mit jedem Meter steigerte sie ihr Tempo, dann übersprang sie die niedrige Aufkantung des Daches und ließ sich in die Dunkelheit fallen … Endlich war sie frei.

 

Kapitel 1

„Kaffee?“, fragte Kriminalhauptkommissar Berling den jungen Kollegen in Uniform, der an seinem Streifenwagen stand und leicht zitterte.
Ein Lächeln huschte über sein blasses Gesicht. „Sehr gern.“ Dankbar nahm der Mann den Coffee-to-go-Becher entgegen und wärmte sich an ihm seine klammen Finger.
„Sie sind neu, oder? Wir hatten noch nicht das Vergnügen.“
„Drau. Stefan Drau. Nach meiner Ausbildung habe ich mich um einen Dienstposten in einer größeren Stadt beworben, und seit letzter Woche bin ich in Kiel.“
„Kriminalhauptkommissar Johann-Heinrich Berling. Herzlich willkommen. Nachdem der Notruf eingegangen war, sind Sie als Erster hier eingetroffen?“
„Meine Kollegin und ich.“ Drau zeigte mit dem Kaffeebecher zu einer Streifenpolizistin mittleren Alters, die am Absperrband stand.
Eine Hand hatte sie in die Taille gestemmt, die andere lag auf dem Holster, in dem ihre Dienstwaffe steckte. Lautstark und ziemlich bildlich erklärte sie zwei Jugendlichen, was sie mit ihnen machen würde, wenn sie nicht sofort ihre Handys einsteckten.
Ihr Monolog endete mit den Worten: „… und jetzt bewegt eure kleinen Ärsche hier weg.“
Die zwei zogen die Köpfe ein und verschwanden mit hängenden Schultern um die nächste Hausecke.
Berling grinste. Er kannte die Kollegin seit Jahren und hatte sie bei gemeinsamen Einsätzen schätzen gelernt. Eine erfahrene Polizistin mit dem Herz am rechten Fleck. Aus eigener Erfahrung wusste er, dass man sich mit ihr nicht anlegen sollte.
„Okay. Sie und Ihre Partnerin waren als Erste vor Ort. Dann erzählen Sie mal, wie sich die Situation für Sie dargestellt hat.“
Der junge Polizist schluckte ein paarmal trocken. Einen Moment dachte Berling, dass er sich übergeben würde. Doch der Moment verflog. Drau nahm einen kräftigen Schluck des Kaffees und sagte mit fester Stimme: „Um drei Uhr siebzehn kam von der Zentrale der Funkspruch rein, dass ein Mann eine leblose, weibliche Person im Grünwaldweg 18c gemeldet hat. Wir waren nur ein paar Querstraßen entfernt, sodass wir um drei Uhr zwanzig hier eintrafen. Ein Mann kam uns winkend entgegengelaufen. Auf dem Weg zu der Toten erklärte er uns – also, dass sind jetzt seine Worte: ‚Als ich aus dem Haus bin, um mit meinem Hund Gassi zu gehen, ist vor mir eine Frau aufs Pflaster geknallt. Die Alte ist nicht einmal einen Meter vor mir aufgeschlagen. Beinahe hätte die Harro und mich platt gemacht.‘ Dann hat er uns seine blutbespritzte Kleidung gezeigt und uns gefragt, ob die Angehörigen verpflichtet seien, die Reinigung zu übernehmen.“
„Sympathischer Bursche.“
„Sie sagen es.“
„Gibt es sonst etwas zu berichten? Andere Augenzeugen?“
„Nein.“ Drau schüttelte den Kopf. „Wir haben uns vergewissert, dass die Frau keine Vitalzeichen mehr aufwies. Danach haben wir umgehend die Zentrale verständigt, dass wir vor Ort ein Team benötigen. Während meine Kollegin den Auffindeort großräumig abgesperrt und die Personalien des Zeugen aufgenommen hat, bin ich bei der Toten geblieben.“
„Warum?“
„Warum?“ Drau schien Berlings Frage nicht zu verstehen.
„Ja. Warum sind Sie bei der Frau geblieben? Sie war tot.“
Drau zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“
„Hatten Sie ein schlechtes Gefühl? Gab es jemanden, der Ihnen aufgefallen ist? War irgendetwas merkwürdig?“
Berling wusste, dass intuitive Handlungen ernst zu nehmen waren. Meist steckte mehr dahinter, als man im ersten Moment vermutete.
Er selbst verließ sich neben Fakten auf seine Intuition. Er gehörte zu den besten Ermittlern bundesweit und wurde von anderen Dienststellen um Mithilfe gebeten, wenn die dortigen Beamten bei ihren Fällen nicht weiterkamen. Seine Kollegen nannten ihn hinter seinem Rücken den ‚Seher‘, da er oft einer Spur mit den Worten folgte: „Ich habe da so ein Gefühl ...“ Seine Aufklärungsrate von einundneunzig Prozent bestätigte ihm, dass es richtig war, auf seine innere Stimme zu hören.
„Also, Kollege, gab es etwas oder jemanden, der Sie veranlasste, so zu handeln?“
„Nein, da war nichts. Alles war ruhig. Um die Uhrzeit waren kaum Menschen auf der Straße, und die wenigen, die unterwegs waren, hatten es eilig. Wahrscheinlich waren sie auf dem Weg zur Arbeit – Frühschicht. Außer den zwei Jugendlichen, die meine Kollegin so souverän vertrieben hat, gab es keine Schaulustigen Nein, eigentlich gab es keinen Grund …“ Beschämt schaute Drau auf seine Fußspitzen.
„Und uneigentlich?“, bohrte Berling weiter.
„Sie werden mich für verrückt halten.“
„Versuchen Sie es.“
„Ich hatte das Gefühl, dass ich es der Toten und ihrer Familie schuldig wäre, sie nicht allein in der Dunkelheit auf dem kalten Pflaster liegen zu lassen.“
Berling nickte. Empathie war ein starkes Gefühl. Leider würde es dem jungen Kollegen im Laufe seiner Dienstjahre mehr und mehr verloren gehen. Wäre das nicht der Fall, würde er an seinem Beruf zerbrechen.
„Ich halte Sie nicht für verrückt. Es war sehr nett, was Sie getan haben.“ Er klopfte Drau auf die Schulter, um dann zu seinen Kollegen zu gehen, die am Ort des Geschehens auf ihn warteten.
 

***

 
„Moin, Thomas. Doc.“ Er nickte dem Rechtsmediziner und seinem Kollegen Stockert zu, mit dem er sich im Präsidium ein Büro teilte.
„Moin, Joe. Hast du meinen Kaffee vergessen?“, wollte Stockert von seinem Vorgesetzten wissen.
„Hier, nimm meinen. Ich habe deinen dem jungen Kollegen von der Streife gegeben. Der war ziemlich blass und zittrig. Er sah aus, als könnte er einen vertragen.“
„Kein Wunder. Der Anblick von Springern aus dieser Höhe ist selbst für lang gediente Kollegen schwer zu ertragen. Darüber gehen nur die Suizidenten, die sich vor einen Zug werfen“, merkte der Doc an, ohne den Blick von der Toten abzuwenden.
„Wem sagst du das?“, nuschelte Stockert in seinen Kaffeebecher.
Obwohl der Vorfall über ein Jahr zurücklag, wachte er manchmal in der Nacht noch schweißgebadet auf. Die Bilder zweier sechzehnjähriger Mädchen, die sich gemeinsam vor einen fahrenden Schnellzug geworfen hatten, verfolgten ihn bis heute in seine Träume.
Die drei Männer schwiegen. Für einen Moment schienen sie in den Erinnerungen, an ihre schlimmsten Fälle gefangen zu sein. Es war Berling, der als Erster zum Tagesgeschehen zurückkehrte.
„Okay, Doc. Was haben wir?“
„Unbekannte, weibliche Tote. Circa dreißig bis vierzig Jahre alt. Todeszeitpunkt stimmt mit der Zeugenaussage des Mannes überein, der den Notruf abgesetzt hat. Bei der Auffindesituation der Leiche kann man mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es sich um einen Suizid handelt. Ohne sie auf dem Tisch gehabt zu haben - bei dem Verletzungsmuster, das ich sehe –, denke ich, dass sie vom Dach gesprungen ist.“
„Kannst du ausschließen, dass sie gestoßen wurde?“
„Ich persönlich würde es ausschließen, aber das wäre Spekulation. Du weißt: Hundertprozentige Sicherheit gibt es erst nach der Leichenschau. Morgen Nachmittag kann ich dir mehr sagen.“
„Ist es möglich, dass es ein Unfall gewesen ist?“
„Du meinst, dass sie es liebte, nachts auf Hochhausdächern herumzutanzen und dabei abgestürzt ist?“
„Warum nicht? Durch unseren Beruf wissen wir, dass es nichts gibt, was es nicht gibt.“
„Das stimmt, aber: nein. Diejenigen, die verunfallen, versuchen sich während des Sturzes an der Hauswand, an Fensterbänken oder Ähnlichem festzuhalten, sodass kleinere Verletzungen an den Händen entstehen. Das ist bei ihr nicht der Fall. Außer ihren Fingern, die fast alle durch den Aufschlag gebrochen wurden, sehe ich keine weiteren Verletzungen wie Abschürfungen oder herausgerissene Fingernägel.
Nee, dass hier ist ein Suizid wie aus dem Lehrbuch: Mit zunehmender Fallhöhe steigt die Wahrscheinlichkeit eines Freitodes. Ab der zwanzigsten Etage liegt sie sogar bei fast hundert Prozent. Auch der Auffindeort zeigt, dass sie mit ordentlich Anlauf über die Dachkante gesprungen ist. Wäre sie abgerutscht, würde sie dichter am Haus liegen.“
„Meine Güte, wie verzweifelt muss man sein, um mit Anlauf vom Dach eines zwanzigstöckigen Hauses zu springen.“ Berling schüttelte den Kopf.
„Sehr verzweifelt. Selbstmord durch ‚Sturz aus der Höhe‘ – um mal den Fachbegriff zu verwenden – gehört zu den harten Suizidmethoden“, erläuterte der Doc, der seit sechs Monaten an der Universität als Gastdozent tätig war und anscheinend gerade vergaß, dass er nicht seine Studenten, sondern erfahrene Kriminalbeamte vor sich hatte.
„Und trotzdem ist diese Suizidmethode die dritthäufigste der tödlich verlaufenden Selbstmorde nach der Vergiftung mit Medikamenten und dem Erhängen …“, vervollständigte Stockert den Vortrag des Rechtsmediziners.
„Danke, Doc, für die fachliche Auffrischung. Die gewählte Suizidform sagt viel über diese Frau aus. Verzweifelt und mutig zugleich.“
Berling ging in die Knie und betrachtete die Tote genauer. Eine große, schlanke Frau mit blondem Haar und manikürten Nägeln.
Ihre Gliedmaßen waren verdreht, und auf unnatürliche Weise umrahmten sie den blutigen Körper. Berling musste unwillkürlich an eine große Marionette denken, die man über die Dachkante gehalten und ihr dann die Fäden durchtrennt hatte.
„Bilde ich es mir ein oder lächelt sie?“
„Habe ich im ersten Moment auch gedacht, aber ich gehe davon aus, dass sich ihr Mund durch die Verschiebung der Schädel- und Kieferknochen beim Aufschlag verzogen hat, sodass es aussieht, als würde sie lächeln.“
„Okay. Sie lächelt also nicht ... Habt ihr ihren Schmuck gesehen?“
Stockert nickte. „Ziemlich dicke Klunker, die sie an den Fingern trägt, und die Uhr ist eine Rolex. Sieht nicht so aus, als wären es Imitate. Ihre Kleidung ist auch nicht von der Stange.“
„Wie kommt eine Frau mit einem guten finanziellen Hintergrund auf ein Hochhausdach in dieser Gegend? Gibt es keine Hinweise, wer sie ist?“
„Nein, ich konnte in ihren Taschen nichts finden, das sie ausweisen würde“, antwortete der Doc. „Die Kollegen von der Spurensicherung sind oben auf dem Dach. Vielleicht finden sie etwas, das uns weiterbringt. Keine Frau, die wie sie auf ihr äußeres Erscheinungsbild achtet, geht ohne Handtasche aus dem Haus …“
„Und auch nicht ohne Schuhe.“ Stockert zeigte auf die nackten Füße der Toten. „Oder hat die Spusi sie schon vertütet?“
Der Doc schüttelte den Kopf. „Sie wird sie ausgezogen haben, bevor sie gesprungen ist. Fast alle Suizidenten, die sich irgendwo runterstürzen, ziehen vorher ihre Schuhe aus und nehmen ihre Brille ab, weil sie Angst haben, dass die kaputt gehen könnte.“
„Als ob das eine Rolle spielen würde.“
„Tja, versteh einer die Menschen.“ Der Rechtsmediziner erhob sich. „Also, ich bin hier fürs Erste fertig. Ich melde mich, wenn ich mit der Obduktion durch bin. Schönen Tag, Leute.“
„Danke, Doc.“
 
„Thomas, ich möchte, dass du zu den Kollegen der Streife gehst. Die sollen sich Unterstützung anfordern und sich durchs Haus fragen. Vielleicht ist jemandem die Frau heute oder bereits früher schon einmal aufgefallen. Im besten Fall hat einer der Bewohner ein paar Worte mit ihr gewechselt und weiß, wer sie ist. Instruier die jungen Kollegen, worauf sie achten sollen und welche Fragen sie zu stellen haben.
Ich werde zu den Kollegen von der Spurensicherung gehen. Mit ein bisschen Glück haben die etwas gefunden, das uns weiterhilft, sie zu identifizieren. Wenn du hier unten fertig bist, komm nach oben und wir besprechen, wie es weitergeht.“
„Mach ich.“
Stockert und Berling waren ein eingespieltes Team. Während ihrer gemeinsamen Dienstjahre bei der Kriminalpolizei hatten sie sich durch ihre fachliche Kompetenz hervorgetan, sodass sie bei Kapitalverbrechen und bei dem Verdacht eines Tötungsdeliktes häufig bei der ermittelnden Mordkommission eingesetzt worden waren. Mittlerweile waren sie die führenden Ermittler dieser Organisationseinheit und leiteten die Jüngeren an.
 

***

 
Berling schob die schwere Stahltür auf, die mit einem Sicherheitsschloss versehen war und auf der in Großbuchstaben geschrieben stand:
 

ZUTRITT STRENGSTENS VERBOTEN

 
„Moin, Kollegen.“ Berlings Gruß wurde einstimmig erwidert. Mehrere Beamte der Spurensicherung hatten sich auf dem Dach verteilt und waren mit der Sicherung von Beweismitteln beschäftigt.
Berling fielen sofort die Handtasche aus Leder und die teuer aussehenden Pumps auf, die ordentlich auf der Aufkantung des Daches abgestellt worden waren.
„Moin, Joe, noch nicht ganz wach?“, fragte die Kollegin von der Spurensicherung, in die er fast hineingerannt war.
„Entschuldige, Dagmar. Ich war so fixiert auf die Handtasche, dass ich dich übersehen habe. Habt ihr einen Personalausweis oder etwas gefunden, das die Tote ausweist?“
„Schon verpackt.“ Dagmar hielt Berling die Beweismitteltüte hin. „Sollte die Presse rausbekommen, wer sie war, ist das nicht nur eine Schlagzeile für die Stadtnachrichten.“
„Zeig her.“
Berling zog die Folie der Beweismitteltüte glatt, damit er lesen konnte, was auf dem Ausweis stand.
„Emilia Leonore Beatriz Hohenberg“, las er vor. „Doch nicht etwa DIE Hohenberg?“
„Genau die Hohenberg, von der Hohenberg GmbH, das Unternehmen der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie mit mehreren Niederlassungen und Zweigstellen weltweit. Ihre Handtasche hat mehr gekostet als ich in drei Monaten verdiene – aber wie wir sehen: Geld allein macht nicht glücklich.“
„Ich versteh nicht, dass ich sie nicht erkannt habe. Ab und zu tauchten Fotos von ihr in der kommunalen Presse auf.“
„Ganz ehrlich, Joe? Ich glaube nicht, dass noch irgendwer nach einem Sprung aus dem zwanzigsten Stock Ähnlichkeit mit sich selbst hat.“
„Wahrscheinlich hast du recht. Habt ihr sonst etwas gefunden?“
„Nichts. Bis auf den Ausweis war ihre Handtasche leer. Kein Portemonnaie, Handy oder Schlüssel – nicht einmal ein Päckchen Papiertaschentücher.“
„Sie wollte zumindest, dass wir wissen, wer sie war, und dass ihre Angehörigen verständigt werden. Habt ihr einen Abschiedsbrief gefunden?“
„Nein.“
„Du hast gesagt, sie hatte keine Schlüssel bei sich.“
Dagmar nickte.
„Wie ist sie auf das Dach gekommen? Die Tür müsste doch verschlossen gewesen sein.“
„Zumindest war sie es, als wir hier eintrafen. Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder war sie nicht allein und die Tür wurde nach ihrem Sturz wieder verschlossen, oder sie hatte einen Schlüssel und hat ihn gut versteckt beziehungsweise vom Dach geworfen. Wenn du meine Meinung hören willst: Ich glaube, sie war allein. Ihr solltet auf jeden Fall mit dem Hausmeister sprechen.“
Dagmar zeigte zu einem Mann, der sich dicht an die Außenwand des Dachaufganges gedrückt hatte und sich zwanghaft über seinen rechten Handrücken kratzte.
„Wie habt ihr ihn so schnell hierher bekommen?“
„Der Zeuge, der den Notruf abgesetzt hat, hat uns gesagt, dass der Hausmeister seine Werkdienstwohnung im ersten Obergeschoss hat.“
„Warum glaubst du, dass er etwas weiß?“
„Nachdem er uns die Tür aufgeschlossen und die Handtasche und Schuhe gesehen hat, schien ihm sofort klar zu sein, was passiert ist. Er wurde leichenblass und flüsterte: ‚Das habe ich nicht gewollt …‘ Ich dachte, es wäre gut, ihn hier oben zu behalten, damit ihr ihn befragen könnt.“
„Sehr gut, Dagmar. Dann kümmere ich mich jetzt um ihn. Seht ihr euch nach dem Schlüssel um, den sie eventuell bei sich hatte?“
„Glaub mir, wir werden jeden Zentimeter um das Hochhaus untersuchen, und wenn es einen Schlüssel gegeben hat, finden wir ihn.“
Berling lächelte. „Ich weiß. Ihr seid die Besten.“
 

***

 
„Kriminalhauptkommissar Berling. Guten Morgen. Sie sind der Hausmeister dieser Wohnanlage?“
Der Mann reagierte nicht auf ihn. Wie paralysiert starrte er die Tasche und die Schuhe der Toten an, während er sich unentwegt über seinen Handrücken kratzte.
Im Licht der Scheinwerfer, die die Spurensicherung auf dem Dach aufgebaut hatte, konnte Berling sehen, dass seine Haut aufgerissen und blutig war.
Vorsichtig fasste er den Mann am Oberarm. Erschreckt zuckte der zusammen. Er machte den Eindruck, als würde er aus einer anderen Welt zurückkehren und für den Moment nicht wissen, wo er sich gerade befand.
„Guten Morgen. Ich bin Kriminalhauptkommissar Berling. Sie sind als Hauswart für diese Wohnanlage zuständig?“
„Ja, für diese und die 18b“, antwortete der Mann zögerlich.
„Und Ihr Name ist …?“
„Eckart Bankert. Alle nennen mich Eggi.“ Der Hausmeister hielt ihm die blutige Hand hin, die Berling nur widerwillig schüttelte.
„Herr Bankert, die Tür zum Dach ist immer verschlossen?“
„Immer“, bestätigte der Hauswart mit Nachdruck.
„Entschuldigen Sie, da kommt gerade mein Kollege. Ich möchte, dass er bei unserem Gespräch dabei ist. Thomas, kommst du zu uns rüber, bitte.“
„Moin“, sagte Stockert mit einem Seitenblick auf die blutende Hand des Hauswarts.
„Thomas, das ist Eckart Bankert, der Hausmeister. Er hat mir gerade versichert, dass die Tür zum Dach immer verschlossen ist.“
Der Tonfall seines Kollegen verriet Stockert sofort, dass es hier um mehr ging als um eine einfache Befragung.
„Herr Bankert, wer außer Ihnen ist hier zugangsberechtigt?“
„Niemand.“
„Und Sie sind sich sicher, dass Sie nie vergessen haben, die Tür hinter sich abzuschließen?“
„Absolut. Es wäre unverantwortlich, die Tür unverschlossen zu lassen. Im Haus wohnen viele Kinder. Ich selbst habe drei Jungs im Alter von zwölf bis sechzehn Jahren.“
„Wie viele Schlüssel gibt es, und wo werden sie verwahrt?“
„Vier. Drei sind bei der Hausverwaltung im Büro von Frau Viola Taschert und einen habe ich – sehen Sie.“ Bankert nahm die Kette in die Hand, die er um den Hals trug und an der ein Schlüssel baumelte.
„Wenn es nur vier Schlüssel gibt, die anscheinend gut verwahrt werden, wie erklären Sie es sich, dass eine Frau nachts auf dieses Dach gelangt?“ Berlings Ton war schärfer geworden.
„Ich habe keine Ahnung.“ Berling und Stockert entgingen nicht die kleinen Schweißperlen, die sich über der Oberlippe des Hauswarts bildeten.
„Als Sie meinen Kollegen von der Spurensicherung die Tür zum Dach geöffnet haben und die Sachen der Toten auf der Aufkantung stehen sahen, sagten Sie: ‚Das habe ich nicht gewollt …‘ Ich frage Sie jetzt noch einmal: Wie ist die Frau auf das Dach gekommen? Kannten Sie sie?“
Bankert fing wieder an, unkontrolliert seinen Handrücken zu kratzen. „Ich kannte sie nicht wirklich. Wir haben uns ein paarmal getroffen, aber ich konnte doch nicht ahnen, dass sie vom Dach springen würde.“
„Sie kannten sie also. Haben Sie ihr die Tür geöffnet?“
„Am Anfang.“
„Meine Güte, Herr Bankert, nun lassen Sie sich nicht alles aus der Nase ziehen. Reden Sie schon.“
„Vor ungefähr drei Monaten kam sie zu mir ins Hausmeisterbüro und fragte, ob ich sie auf das Dach bringen könnte. Ich habe natürlich verneint. Sie hat nicht lockergelassen und gesagt, dass niemand davon erfahren würde und …“
„Was und?
„Und sie hat mir hundert Euro gegeben. Wissen Sie, für mich ist das viel Geld – drei Jungs, und jeder von ihnen hat Wünsche.“
„Gut. Sie sind also mit ihr aufs Dach. Was wollte sie da?“
„Sie hat nur dagestanden und gelächelt. Sie hat richtig glücklich ausgesehen. Sie sagte, dass sie es liebe, über die Stadt zu blicken. Wir sind nicht lange geblieben, und beim Abschied sagte sie, dass ich ihr eine große Freude gemacht hätte. Sie war sehr nett …“
„Wie ging es weiter?“
„Danach kam sie unregelmäßig vorbei – einmal, manchmal zweimal die Woche.“
„Und jedes Mal bezahlte sie Sie?“
Bankert nickte. „Ich erzählte ihr von meinen Jungs und dass ich ihnen mit dem Geld ein paar Wünsche erfüllen würde. Bei der Gelegenheit hat sie mich gefragt, was denn mein ganz großer Traum wäre. Ich habe ihr von mir, meiner Familie und unseren Wünschen erzählt. Sie war ehrlich interessiert.“
„Erzählte sie auch etwas von sich? Kennen Sie ihren Namen?“
„Sie sagte, sie hieße Christine Ebert. Mehr weiß ich von ihr nicht. Mir sind ihre teure Kleidung und der Schmuck aufgefallen. Mir war klar, dass sie nicht aus einem der Blöcke kam, aber sie hat nie etwas von sich erzählt.“
Berling hielt Stockert die Beweismitteltüte mit dem Ausweis hin. Der warf einen kurzen Blick darauf und nickte kaum merklich.
„Sie sagten, sie war nett. Gefiel sie Ihnen? Ich meine rein optisch?“
„Sie war eine sehr attraktive Frau. Warum fragen Sie?“
„Ich könnte mir vorstellen, dass Sie vielleicht dachten, dass die Frau gar nicht wegen des Ausblicks, sondern Ihretwegen hierherkam.“
„Nein!“
„Nehmen wir mal an, dass Sie sie auch heute Nacht wieder begleitet haben. Sie saßen zusammen auf der Dachkante. Sie fanden sie nett und sehr attraktiv, eine sternenklare Nacht … Die Frau ließ ihre nackten Füße in der Luft baumeln – Sie waren sich nah. Vielleicht haben Sie versucht, sich ihr zu nähern, woraufhin sie Sie zurückgewiesen und sogar beschimpft hat. Da haben Sie die Nerven verloren und sie am Arm gepackt. Es kam zu einem kleinen Handgemenge, bei dem die Frau vom Dach gestürzt ist. Ein schrecklicher Unfall … Wie Sie bereits sagten, Herr Bankert, das haben Sie nicht gewollt.“
Dem Hauswart lief der Schweiß von der Stirn, und sein Handrücken war mittlerweile so stark verletzt, dass Blut auf den Boden tropfte. Er hatte die Augen weit aufgerissen und atmete schwer.
„Nein, nein, nein! So war das nicht. Ich habe sie nur die ersten Male hier hochgebracht, dann hatte sie einen eigenen Schlüssel und konnte auf das Dach, wann immer sie wollte.“
„Und Sie haben ihr Ihren Schlüssel gegeben?“
„Nein. Ich habe ihr einen Nachschlüssel anfertigen lassen.“
„Für hundert Euro?“
Der Hausmeister schüttelte den Kopf. Es war ihm sichtlich peinlich.
„Für einen Urlaub.“
„Was für einen Urlaub?“
„Dominikanische Republik. Drei Wochen All Inklusive für meine Frau, die Jungs und mich. Davon haben wir schon immer geträumt. Sie hat mir zwanzigtausend Euro in die Hand gedrückt und gesagt, wir sollen es uns richtig gut gehen lassen.“
„Was meinten Sie damit, als Sie sagten: „Das habe ich nicht gewollt …?“
„Ich hatte ein ungutes Gefühl, sie allein aufs Dach gehen zu lassen. Manchmal hatte sie so eine Traurigkeit in den Augen und sagte Dinge wie: ‚Hier ist man den Engeln ganz nah …‘
„Und trotzdem haben Sie ihr einen Schlüssel gegeben. Sie haben gehofft, dass schon alles gutgehen würde, obwohl Sie es besser wussten.“
Einen Moment stand Bankert nur da. Dann sagte er trotzig: „Glauben Sie, jemand wie ich hätte seiner Familie jemals einen solchen Urlaub ermöglichen können? Für meine Jungs bin ich seitdem der beste Vater der Welt. Und ganz ehrlich, wäre sie hier nicht vom Dach gesprungen, dann hätte sie eine andere Möglichkeit gefunden, sich umzubringen.“
 
Berling spürte, dass er kurz davor war, die Fassung zu verlieren. Am liebsten hätte er Bankert genommen und mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen, neben der er stand. Er musste weg von diesem Mann …
„Warten Sie hier. Thomas, ich würde gern mit dir allein sprechen.“
 
Die Ermittler gingen in Richtung der Aufkantung. Während ihrer Unterhaltung ließen sie den Hauswart nicht aus den Augen und blieben in Alarmbereitschaft. Man wusste nie, wie jemand reagierte, wenn ihm klar wurde, dass er sich mitschuldig am Tod eines Menschen gemacht hatte. Manche ergriffen die Flucht, einige brachen zusammen. Das Schlimmste, was in diesem Fall passieren könnte, wäre, dass sich Bankert vor Scham über das, was er getan hatte, selbst vom Dach stürzte.
„Glaubst du ihm?“, wollte Stockert wissen.
Berling nickte. „Er ist ein Arschloch, aber ich denke, dass er die Wahrheit sagt. Schau dich um. Auf knapp drei Quadratkilometern leben hier fast zweitausend Menschen, von denen die Hälfte arbeitslos ist. Zu viele Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen treffen hier zusammen. Da ist Ärger vorprogrammiert. Im letzten Jahr hatte dieser Stadtteil die höchste Jugendkriminalität. Ich möchte nicht wissen, wie oft die Kollegen von der Streife wegen häuslicher Gewalt oder ähnlicher Delikte hierher gerufen werden. Und dann, warum auch immer, findet eine wohlhabende Frau den Weg in diese Gegend und bietet dem Bankert zwanzigtausend Euro, mit denen er sich und seiner Familie den Lebenstraum erfüllen kann. Das muss für ihn wie ein Sechser im Lotto gewesen sein.“
„Was machen wir mit ihm?“
„Ich würde dich bitten, ihn mit aufs Präsidium zu nehmen und seine Aussage zu protokollieren. Nimm ihn ruhig ein wenig in die Mangel, obwohl ich nicht glaube, dass da mehr ist, als er uns erzählt hat. Lass dir die Reiseunterlagen geben. Könntest du dich auch um die Kollegen von der Streife kümmern? Eine der Besatzungen soll die Taxizentralen abklappern und fragen, ob sie in der Nacht eine Fahrt in diesen Stadtteil hatten.“
„Mach ich. Und du informierst die Angehörigen?“
Berling nickte.
„Ist es tatsächlich die Hohenberg von der Hohenberg GmbH?“
„Sieht so aus …“
„Da kannst du sehen, dass Geld allein nicht glücklich macht.“
„Hat Dagmar auch gemeint. Ach, apropos Dagmar … Kannst du sie bitte informieren, dass die Tote einen Schlüssel zum Dach hatte? Sie weiß Bescheid, worum es geht.“

 

 

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